Zuhause finden

Wenn Fatemeh darüber nachdenkt, wie sie und ihre Familie nach Deutschland gekommen sind, ist sie einfach nur dankbar. Dankbar, dass sie leben, in Sicherheit sind und es ihnen gut geht. Denn für sie war und ist das nicht selbstverständlich. Hier ist ihre Geschichte: 

Fatemeh wuchs in der Nähe von Herat, Afghanistan, auf. Sie wohnte zusammen mit ihren Eltern, zwei jüngeren Geschwistern und Großeltern in einem Haus auf dem Land. Ihnen ging es soweit gut, doch mit den Jahren wurde die Sicherheitslage immer schlimmer. Die Taliban waren an der Macht und unterdrückten die Menschen. Fatemeh konnte die Schule nicht besuchen, weil sie ein Mädchen war, und durfte nur verschleiert und mit einem männlichen Begleiter vor die Haustür. Als ihre Eltern von einem über 40-jährigen Mann dazu gedrängt wurden ihm Fatemeh als Zweitfrau zu geben, eskalierte die Lage. Fatemeh war zu diesem Zeitpunkt erst elf Jahre alt. Für ihre Eltern war es absolut keine Option sie zu verheirateten. Dies zog den Zorn des Mannes auf sich, der mit den Taliban in Verbindung stand und in dem Ort sehr mächtig war. Er schikanierte die Familie, drohte ihnen, zerstörte ihren Ruf und tat dem Vater sogar Gewalt an. So ging es mehrere Jahre, bis es so schlimm wurde, dass sie entschieden: Hier können wir nicht bleiben. Hier haben wir keine Zukunft: “Meine Eltern wollten, dass uns Kindern alle Türen offenstanden, aber dort waren sie verschlossen und wir lebten ein Leben voller Angst und Unsicherheit.”

Praktisch über Nacht verkauften sie alles was sie hatten und flohen in den benachbarten Iran. Fatemeh war zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt. Doch im Iran wurde man als afghanischer Flüchtling nicht registriert und hatte somit weder Arbeitsgenehmigung, noch eine Chance auf Bildung. Nach zwei Jahren hörten sie, dass Europa Flüchtlinge willkommen hieß. Da sie im Iran nichts hielt, machten sie sich auf den Weg dorthin. Und damit begann eine Reise, die Erzählstoff für ein ganzes Buch bietet.

Der erste Teil der Reise führte sie in die Türkei. Zu zehnt in einem kleinen PKW wurden sie in die Berge gefahren und dann ging es zu Fuß und zu Pferd über das Gebirge. Fatemeh erinnert sich noch gut an die Todesängste: “Es war absolut angsteinflößend. Einen Großteil des Weges dachte ich nicht, dass wir es überleben würden. Ich erinnere mich wie meine kleine Schwester vor Hunger weinte, wie wir uns versteckten als wir Schüsse hörten, wie meine Mutter und ich vom Pferd fielen, wie fast alle unserer wenigen Habseligkeiten gestohlen wurden und wir als Familie für einen Teil der Reise getrennt wurden.” 

Doch sie schafften es in die Türkei. Dort erkauften sie sich Plätze in einem Boot, dass sie nach Griechenland bringen sollte. Nachts, in völliger Dunkelheit ging es los. Und schon wieder stand die Familie Todesängste aus. Die Wellen waren hoch und das Boot klein wie eine Nussschale, die jeden Moment zu sinken drohte. Als sie im Morgengrauen in Griechenland an Land gingen, war die Freude und Dankbarkeit übergroß: “Endlich waren wir in Sicherheit. Das Gefühl werde ich nie vergessen.”

Doch bleiben konnten sie in Griechenland nicht. Mit Bussen wurden sie mit hunderten anderer Flüchtlinge nach Mazedonien und dann nach Deutschland gefahren. In Berlin wurden Fatemeh und ihre Familie als Flüchtlinge registriert und landeten in einer ehemaligen Tabakfabrik im Norden Berlins, die über Nacht zur Notunterkunft für bis zu 1000 Geflüchtete umfunktioniert wurde. Dort war eine riesige Halle mit Bauzäunen behelfsmäßig in verschiedene Schlafbereiche mit hunderten Doppelstockbetten unterteilt worden: Zwei für Männer und einer für Frauen und Kinder mit null Privatsphäre. 

Die Anfangszeit war für sie extrem schwierig. Sie mussten die Sprache lernen, verbrachten ganze Nächte in Warteschlangen vor hoffnungslos überforderten Ämtern, erlebten Rassismus in Bus und Bahn und hatten zwar ein Dach über dem Kopf, allerdings keines, unter dem sie sich zuhause fühlten. Doch am Schlimmsten war die Ungewissheit, ob sie in Deutschland bleiben durften, oder nicht. 

Der Moment als Fatemeh und ihre Familie Anfang 2017 in ihrer eigenen Mietwohnung ihre unbefristete Aufenthaltsgenehmigung in den Händen hielten, war der Moment, als sie wirklich ankam. “Als wir wussten, dass wir wirklich bleiben durften, war die Erleichterung so groß. Dann konnten wir uns darauf einstellen unser Leben hier zu verbringen.” Nicht nur physisch, sondern auch mental anzukommen, veränderte einiges. Sie fand Anschluss in der Schule, investierte in ihre Freundschaften und setzte sich Ziele. “Ich bin sehr dankbar für die Chance in einer offenen Gesellschaft zu leben, in der ich als Frau die gleichen Rechte und Möglichkeiten habe, wie Männer. Das ist für mich keine Selbstverständlichkeit.”, erzählte mir Fatemeh. Sie hat sich mittlerweile dazu entschieden ihr Kopftuch abzunehmen, das in Afghanistan und dem Iran für Frauen Pflicht ist. Nach ihrem Schulabschluss möchte sie Hebamme werden. 

Die aktuelle Situation der Flüchtlinge, die derzeit versuchen nach Europa zu gelangen, aber an den Grenzen voller Hass und Gewalt abgewiesen werden, tut ihr ganz besonders weh und bringt Erinnerungen an ihre Flucht zurück. “Niemand flieht einfach ohne Grund. Wären sie nicht dazu gezwungen, würden sie nicht kommen. Alles was sie wollen ist Sicherheit und ein Dach über dem Kopf. Ich verstehe nicht, wie man mit Menschen so umgehen kann.”

Fatemeh ist dankbar ihr Zuhause in Deutschland gefunden zu haben. Sie und ihre Familie sind glücklich hier und gleichzeitig fühlt sie mit den Menschen, den Männern, Frauen und Kindern, die ähnliches durchmachen mussten wie sie, nur ohne das Happy End. Ihr Appell an alle die diese Bilder sehen: “Seht sie als Menschen und nicht als Politik. Und wenn ihr die Möglichkeit habt, unterstützt sie und betet für sie. Sie brauchen euch.” 

Ein Gedanke zu „Zuhause finden

Schreibe einen Kommentar zu Rebekka Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.